Staßenkinder gibt’s auch hier in DE!

TW: Trauer, Tod

Wenn ich durch die Stadt laufe, dann gehören obdachlose Menschen zum Alltagsbild dazu. Nicht nur in Großstädten wie Berlin, selbst in kleineren Städten ist Obdachlosigkeit keine Ausnahme. Manchmal sind es auch jüngere Menschen. Nicht selten Kinder und Jugendliche. Ich hatte einmal eine hitzige Diskussion mit einem Bekannten über genau dieses Thema. Er meinte zu mir: „Was erwartest du denn jetzt von mir? Soll ich zu jedem „Obdachlosen“ gehen und meine Hilfe anbieten?“. Ich habe geantwortet: „Nein, das ist wohl kaum möglich.“ Im Nachhinein hätte ich eigentlich lieber gesagt, dass genau das, das Problem ist. Ich wünsche mir eine Welt, in der so viel Verantwortung für andere Menschen übernommen wird, dass es überhaupt keine Obdachlosigkeit gibt. Dass du, wenn du auf der Straße eine Person siehst, die um Hilfe bittet oder von der du denkst, dass sie Unterstützung braucht, schockiert bist, warum es überhaupt so weit kommen konnte und dass du ohne darüber nachzudenken zu der Person hin gehst und deine Unterstützung anbietest. Natürlich ist mir bewusst, dass das ganz und gar nicht nur eine Frage der Einstellung ist. Das Problem ist vielmehr ein strukturelles.

2021 habe ich angefangen Theater zu spielen. Dort habe ich einen richtig tollen Menschen kennengelernt. Mittlerweile verwende ich für diesen Menschen den Namen „Ratte“ und er/ihm-Pronomen. Zu dem Zeitpunkt als wir uns kennengelernt haben, hatte Ratte aber noch einen anderen Namen und andere Pronomen für sich ausgesucht.* Unser Theaterstück haben wir selbst geschrieben. Es sind sehr viele persönliche Erinnerungen, Geschichten und Themen eingeflossen. Wir haben uns ziemlich schnell und ziemlich gut kennen gelernt. Ratte hat in dem Stück viel über Transidentität gesprochen. Später hat er für sich einen neuen Namen gewählt. Dieser Name sollte ihm ein bisschen mehr von seiner pakistanischen Identität zurückgeben. Ratte ist nicht in Berlin aufgewachsen, sondern in einer Kleinstadt in Niedersachsen. In seiner frühen Jugend ist er aus seiner Familie herausgenommen worden und in eine Gruppe für Kinder und Jugendliche gekommen, in der strenge Regeln die „nötige“ Struktur geben sollten. Später dann ist er nach Berlin gezogen in eine „lockerere“ Wohngruppe.

Ratte hat in unserem Theaterstück auch thematisiert, dass sich sein Leben oft fremdbestimmt angefühlt hat. Von A nach B geschubst zu werden, Erwartungen wie „man“ zu sein und zwischendrin immer die Frage: „Wer bin ich denn eigentlich?“

Ich weiß mit Sicherheit, dass ich nur einen Bruchteil von seiner Gefühlswelt mitbekommen habe und auch nur einen Bruchteil seiner Geschichte kenne. Deswegen ist es mir wichtig, hier nochmal anzumerken, dass ich diesen Text aus meiner subjektiven Wahrnehmung heraus schreibe und ich Rattes Geschichte nicht aus seiner Perspektive erzählen kann.

Anfang des Sommers 2022 sind wir mit unserem Theaterstück aufgetreten. Rattes Szene hat viele Menschen sehr berührt. Er hat eine Menge persönliches von sich geteilt und Menschen haben ihm zugehört und mitgefühlt. Die Theatergruppe musste sich danach auflösen. Nicht genug Gelder, die die Gruppe weiterfinanzieren können. Ein weiteres Beispiel dafür, wie hier in Deutschland Sozialpolitik läuft. Ich war viel unterwegs im Sommer. Alle paar Wochen haben wir uns gesehen. Ratte hat in dieser Zeit immer häufiger und härtere Drogen konsumiert. Wir haben manchmal darüber gesprochen und jedes Mal hat Ratte seine Situation, zumindest aus meiner Perspektive, sehr klar und objektiv wahrgenommen. Im Winter ist er aus seiner Wohngruppe rausgeflogen. Das Argument: „Wir müssen auch die anderen Jugendlichen schützen. Wir haben eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Drogen.“ Obwohl mir damals schon die katastrophalen Missstände in der staatlichen Kinder- und Jugendarbeit bewusst waren, war ich trotzdem sehr schockiert. Wie kann es sein, dass minderjährige Jugendliche einfach auf die Straße gesetzt werden? Wie kann es sein, dass für Jugendliche (eigentlich Menschen generell) mit Suchtproblemen nicht einmal ein langfristiger Wohnort gestellt wird? Ein so grundlegendes menschliches Bedürfnis.

Als wir das nächste Mal miteinander gesprochen haben, sagte Ratte mir, dass er jetzt „Ratte“ genannt werden möchte. Die Pronomen seien Ratte egal.  Viele Monate später hat mir eine andere gute Freundin von Ratte erzählt, dass Ratte sich vermutlich mit „er/ihm“-Pronomen am wohlsten fühlen würde. Ratte war zu dem Zeitpunkt 17 Jahre alt. Noch hatte er eine gesetzliche Betreuerin. Als erwachsene Person wäre die Betreuung nicht mehr verpflichtend. Ratte meinte zu mir: „Wenn ich 18 werde, dann haben die ein Problem weniger.” „Die“, das sind die, die Ratte nicht auffangen konnten. Die ihn auf die Straße gesetzt haben, wo er ohne Rückzugsort Rassismus, Polizeigewalt, Queerfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt erfahren hat. Wie kann von einem Menschen, der solcher Gewalt ausgesetzt ist, erwartet werden drogenfrei zu werden? Wie kann erwartet werden, dass ein Mensch, ohne wirkliches Supportsystem, es schafft, sich da quasi alleine rauszuholen. Ich weiß, dass „die“ auch in einem kaputten System arbeiten und auch die, die Ratte wirklich unterstützen wollten, sich so gefühlt haben, als seien ihnen die Hände gebunden.

Einmal hatte Ratte einen Streit mit einem anderen Mitspieler der Theatergruppe. Es war so ein typischer Kapitalismus/Kommunismus-Konflikt. Der andere Mitspieler hat versucht das kapitalistische System zu verteidigen. Ratte ist sehr wütend geworden und rausgegangen. Noa eine andere Mitspielerin hat später besagtem Mitspieler erklärt, dass er wahrscheinlich so verletzt ist, weil er genau unter diesem System leidet und das ja auch thematisiert in unserem Stück. Indem dieses System verteidigt wird, wird  Rattes Stimme auf lautlos gestellt. Nicht wahrgenommen. Ich glaube der andere Mitspieler hat es verstanden.

Ratte wusste über das diskriminierende System, in dem wir leben Bescheid. Und er  wusste auch, dass er nicht zu den Menschen gehört, die davon profitieren, sondern einer der Menschen ist, die hinten runterfallen, die nicht reinpassen.

In der Abschlussszene unseres Theaterstücks, steht Ratte vorne an der Bühne. Er trägt einen Gürtel an dem dicke Metallketten hängen. Laut ins Publikum sagt Ratte:

„Ich bin nicht die Quotentranse in einem System, dass mich nicht haben will. Ich bin es einfach leid für Grundrechte, für einen fairen Umgang oder für einen menschlichen Umgang zu kämpfen. Ich finde es auch ungerecht, dass ich von klein auf diese Fragen um mich herum habe, ob irgendetwas mit mir nicht stimmt oder ob ich krank bin. Ich bin es leid, für einen Platz in diesem Land zu kämpfen.“

Am 7. Mai 2023 ist Ratte gestorben. Mir wurde gesagt, dass Rattes Körper nicht mehr konnte, dass er zu schwach war, um das weiter durchzustehen. Dieser Welt wurde ein unfassbar mutiger, lustiger, sanfter und großherziger Mensch genommen. Ein Mensch, der sich für andere stark gemacht hat, der zugehört hat und mich selbst in den beschissensten Zeiten noch anlächeln konnte, um mir meine Sorgen zu nehmen.

Rattes Geschichte ist kein Einzelfall. Viele Menschen sterben auf der Straße, darunter Jugendliche und Kinder. Sie werden ausgelöscht und vergessen. Lasst uns das nicht einfach so hinnehmen. Wir sollten gemeinsam Verantwortung übernehmen und Menschen zuhören, ihre Stimme nach draußen tragen. Aktiv dagegen ankämpfen. Es gibt selbstorganisierte Projekte, die sich für obdachlose Menschen stark machen, die Unterstützung brauchen oder organisiert euch selbst. Es gibt viele Möglichkeiten, nur schweigen und hinnehmen ist keine.

Am 07.03.2024 um 17:00 Uhr am S-Bahnhof Warschauer Straße möchten wir gemeinsam Ratte gedenken und mit einer anschließenden Demonstration laut werden. Kommt vorbei und zeigt euch solidarisch mit Menschen, deren Lebensmittelpunkt auf der Straße stattfindet!

*Ich habe mich dazu entschieden in diesem Text nicht zu teilen, welche Namen und Pronomen Ratte in der Zeit in der wir uns kannten für sich verwendet hat, damit sein Wunsch, den Namen „Ratte“ zu verwenden, berücksichtigt wird.