Staßenkinder gibt’s auch hier in DE!

TW: Trauer, Tod

Wenn ich durch die Stadt laufe, dann gehören obdachlose Menschen zum Alltagsbild dazu. Nicht nur in Großstädten wie Berlin, selbst in kleineren Städten ist Obdachlosigkeit keine Ausnahme. Manchmal sind es auch jüngere Menschen. Nicht selten Kinder und Jugendliche. Ich hatte einmal eine hitzige Diskussion mit einem Bekannten über genau dieses Thema. Er meinte zu mir: „Was erwartest du denn jetzt von mir? Soll ich zu jedem „Obdachlosen“ gehen und meine Hilfe anbieten?“. Ich habe geantwortet: „Nein, das ist wohl kaum möglich.“ Im Nachhinein hätte ich eigentlich lieber gesagt, dass genau das, das Problem ist. Ich wünsche mir eine Welt, in der so viel Verantwortung für andere Menschen übernommen wird, dass es überhaupt keine Obdachlosigkeit gibt. Dass du, wenn du auf der Straße eine Person siehst, die um Hilfe bittet oder von der du denkst, dass sie Unterstützung braucht, schockiert bist, warum es überhaupt so weit kommen konnte und dass du ohne darüber nachzudenken zu der Person hin gehst und deine Unterstützung anbietest. Natürlich ist mir bewusst, dass das ganz und gar nicht nur eine Frage der Einstellung ist. Das Problem ist vielmehr ein strukturelles.

2021 habe ich angefangen Theater zu spielen. Dort habe ich einen richtig tollen Menschen kennengelernt. Mittlerweile verwende ich für diesen Menschen den Namen „Ratte“ und er/ihm-Pronomen. Zu dem Zeitpunkt als wir uns kennengelernt haben, hatte Ratte aber noch einen anderen Namen und andere Pronomen für sich ausgesucht.* Unser Theaterstück haben wir selbst geschrieben. Es sind sehr viele persönliche Erinnerungen, Geschichten und Themen eingeflossen. Wir haben uns ziemlich schnell und ziemlich gut kennen gelernt. Ratte hat in dem Stück viel über Transidentität gesprochen. Später hat er für sich einen neuen Namen gewählt. Dieser Name sollte ihm ein bisschen mehr von seiner pakistanischen Identität zurückgeben. Ratte ist nicht in Berlin aufgewachsen, sondern in einer Kleinstadt in Niedersachsen. In seiner frühen Jugend ist er aus seiner Familie herausgenommen worden und in eine Gruppe für Kinder und Jugendliche gekommen, in der strenge Regeln die „nötige“ Struktur geben sollten. Später dann ist er nach Berlin gezogen in eine „lockerere“ Wohngruppe.

Ratte hat in unserem Theaterstück auch thematisiert, dass sich sein Leben oft fremdbestimmt angefühlt hat. Von A nach B geschubst zu werden, Erwartungen wie „man“ zu sein und zwischendrin immer die Frage: „Wer bin ich denn eigentlich?“

Ich weiß mit Sicherheit, dass ich nur einen Bruchteil von seiner Gefühlswelt mitbekommen habe und auch nur einen Bruchteil seiner Geschichte kenne. Deswegen ist es mir wichtig, hier nochmal anzumerken, dass ich diesen Text aus meiner subjektiven Wahrnehmung heraus schreibe und ich Rattes Geschichte nicht aus seiner Perspektive erzählen kann.

Anfang des Sommers 2022 sind wir mit unserem Theaterstück aufgetreten. Rattes Szene hat viele Menschen sehr berührt. Er hat eine Menge persönliches von sich geteilt und Menschen haben ihm zugehört und mitgefühlt. Die Theatergruppe musste sich danach auflösen. Nicht genug Gelder, die die Gruppe weiterfinanzieren können. Ein weiteres Beispiel dafür, wie hier in Deutschland Sozialpolitik läuft. Ich war viel unterwegs im Sommer. Alle paar Wochen haben wir uns gesehen. Ratte hat in dieser Zeit immer häufiger und härtere Drogen konsumiert. Wir haben manchmal darüber gesprochen und jedes Mal hat Ratte seine Situation, zumindest aus meiner Perspektive, sehr klar und objektiv wahrgenommen. Im Winter ist er aus seiner Wohngruppe rausgeflogen. Das Argument: „Wir müssen auch die anderen Jugendlichen schützen. Wir haben eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Drogen.“ Obwohl mir damals schon die katastrophalen Missstände in der staatlichen Kinder- und Jugendarbeit bewusst waren, war ich trotzdem sehr schockiert. Wie kann es sein, dass minderjährige Jugendliche einfach auf die Straße gesetzt werden? Wie kann es sein, dass für Jugendliche (eigentlich Menschen generell) mit Suchtproblemen nicht einmal ein langfristiger Wohnort gestellt wird? Ein so grundlegendes menschliches Bedürfnis.

Als wir das nächste Mal miteinander gesprochen haben, sagte Ratte mir, dass er jetzt „Ratte“ genannt werden möchte. Die Pronomen seien Ratte egal.  Viele Monate später hat mir eine andere gute Freundin von Ratte erzählt, dass Ratte sich vermutlich mit „er/ihm“-Pronomen am wohlsten fühlen würde. Ratte war zu dem Zeitpunkt 17 Jahre alt. Noch hatte er eine gesetzliche Betreuerin. Als erwachsene Person wäre die Betreuung nicht mehr verpflichtend. Ratte meinte zu mir: „Wenn ich 18 werde, dann haben die ein Problem weniger.” „Die“, das sind die, die Ratte nicht auffangen konnten. Die ihn auf die Straße gesetzt haben, wo er ohne Rückzugsort Rassismus, Polizeigewalt, Queerfeindlichkeit und sexualisierte Gewalt erfahren hat. Wie kann von einem Menschen, der solcher Gewalt ausgesetzt ist, erwartet werden drogenfrei zu werden? Wie kann erwartet werden, dass ein Mensch, ohne wirkliches Supportsystem, es schafft, sich da quasi alleine rauszuholen. Ich weiß, dass „die“ auch in einem kaputten System arbeiten und auch die, die Ratte wirklich unterstützen wollten, sich so gefühlt haben, als seien ihnen die Hände gebunden.

Einmal hatte Ratte einen Streit mit einem anderen Mitspieler der Theatergruppe. Es war so ein typischer Kapitalismus/Kommunismus-Konflikt. Der andere Mitspieler hat versucht das kapitalistische System zu verteidigen. Ratte ist sehr wütend geworden und rausgegangen. Noa eine andere Mitspielerin hat später besagtem Mitspieler erklärt, dass er wahrscheinlich so verletzt ist, weil er genau unter diesem System leidet und das ja auch thematisiert in unserem Stück. Indem dieses System verteidigt wird, wird  Rattes Stimme auf lautlos gestellt. Nicht wahrgenommen. Ich glaube der andere Mitspieler hat es verstanden.

Ratte wusste über das diskriminierende System, in dem wir leben Bescheid. Und er  wusste auch, dass er nicht zu den Menschen gehört, die davon profitieren, sondern einer der Menschen ist, die hinten runterfallen, die nicht reinpassen.

In der Abschlussszene unseres Theaterstücks, steht Ratte vorne an der Bühne. Er trägt einen Gürtel an dem dicke Metallketten hängen. Laut ins Publikum sagt Ratte:

„Ich bin nicht die Quotentranse in einem System, dass mich nicht haben will. Ich bin es einfach leid für Grundrechte, für einen fairen Umgang oder für einen menschlichen Umgang zu kämpfen. Ich finde es auch ungerecht, dass ich von klein auf diese Fragen um mich herum habe, ob irgendetwas mit mir nicht stimmt oder ob ich krank bin. Ich bin es leid, für einen Platz in diesem Land zu kämpfen.“

Am 7. Mai 2023 ist Ratte gestorben. Mir wurde gesagt, dass Rattes Körper nicht mehr konnte, dass er zu schwach war, um das weiter durchzustehen. Dieser Welt wurde ein unfassbar mutiger, lustiger, sanfter und großherziger Mensch genommen. Ein Mensch, der sich für andere stark gemacht hat, der zugehört hat und mich selbst in den beschissensten Zeiten noch anlächeln konnte, um mir meine Sorgen zu nehmen.

Rattes Geschichte ist kein Einzelfall. Viele Menschen sterben auf der Straße, darunter Jugendliche und Kinder. Sie werden ausgelöscht und vergessen. Lasst uns das nicht einfach so hinnehmen. Wir sollten gemeinsam Verantwortung übernehmen und Menschen zuhören, ihre Stimme nach draußen tragen. Aktiv dagegen ankämpfen. Es gibt selbstorganisierte Projekte, die sich für obdachlose Menschen stark machen, die Unterstützung brauchen oder organisiert euch selbst. Es gibt viele Möglichkeiten, nur schweigen und hinnehmen ist keine.

Am 07.03.2024 um 17:00 Uhr am S-Bahnhof Warschauer Straße möchten wir gemeinsam Ratte gedenken und mit einer anschließenden Demonstration laut werden. Kommt vorbei und zeigt euch solidarisch mit Menschen, deren Lebensmittelpunkt auf der Straße stattfindet!

*Ich habe mich dazu entschieden in diesem Text nicht zu teilen, welche Namen und Pronomen Ratte in der Zeit in der wir uns kannten für sich verwendet hat, damit sein Wunsch, den Namen „Ratte“ zu verwenden, berücksichtigt wird.

-Jugend Selbstverständnis-

“Keimzelle Keimt – Die Jugend Bleibt Vereint!”, “Die Keimzelle ist ein besetzter, selbstorganisierter Jugendraum in der Rigaerstraße 94”

Ihr seht, das Wort Jugend spielt in unserer Sprache, sowie in unserem Handeln und unserer politischen Arbeit eine zentrale Rolle. Im Zuge dessen sind in unseren Treffen Diskussionen aufgekommen, was dieser Begriff “Jugend” überhaupt bedeutet, warum er uns wichtig ist und was es heißt, ein autonomer Jugendraum zu sein. Diese Diskussion wollen wir mit euch teilen.

Klar ist auf jeden Fall, dass es für uns keine starre Definition von Jugend gibt. Weder können wir anhand klarer Altersgrenzen ausmachen, ob jemand Jugendlich ist, noch anhand bestimmter Charaktereigenschaften oder anderer Merkmale.

Aus unseren Gesprächen haben sich zwei unterschiedliche Säulen, auf die sich der Begriff stützt herauskristallisiert : zum Einen die Jugend als Lebensphase und zum Anderen, Jugend als Mentalität, der sogenannte ‘Jugendgeist’.

Aus den Umständen, in denen Jugendliche leben und sozialisiert werden, ergeben sich bestimmte Charaktereigenschaften die wir als ‘Jugendgeist’ bezeichnen würden. Jugendlichsein ist also hier eine Art Lebensgefühl, das sich auf eben diese Charaktereigenschaften bezieht. Dazu zählt zum Beispiel eine generelle Offenheit, also dass Dinge anders sind/ anders gemacht werden als man es gewohnt ist. Die Offenheit zur Veränderung, dadurch auch eine gewisse Radikalität und Progressivität (also der Wille, Dinge vorwärts zu bringen). Natürlich ist die Jugend keine homogene Masse, und es gibt Jugendliche, die diese Eigenschaften haben, nur teilweise haben oder gar nicht haben. Außerdem sind diese Eigenschaften nicht exklusiv Jugendlich. Erwachsene können sie also genau so haben, ohne dadurch Jugendlich zu sein.

Zur Jugend als Lebensphase haben wir einige Punkte gesammelt. Wichtig dabei ist zu sagen, dass wir nicht denken, dass eine Person nicht (mehr) Jugendlich ist, weil ein Punkt nicht mehr gegeben ist. Es lässt sich auch nicht klar einordnen, wie viele dieser Punkte erfüllt sein müssten, um als Jugendlich zu gelten. Außerdem sehen wir diesen Aspekt mehr fremd- als selbstbestimmt. Ob man Jugendlich ist oder nicht, ist in Bezug auf den Begriff der Lebensphase, also keine Wahl die man trifft, sondern Wahrnehmung durch andere Menschen, sowie die materielle Lebensrealität, in der man steckt. Hier geht es zum Beispiel darum ob man eine feste Lohnarbeit hat, inwiefern man von den Eltern abhängig ist (finanziell, bei ihnen wohnen, etc.), wie viel Lebenserfahrung man bereits sammeln und wie viel man sich ausprobieren konnte und auch wie man rechtlich behandelt wird (zum Beispiel Jugenstrafrecht, Jugendknast, Schulpflicht, aber auch Vergünstigungen u.s.w.).

Auf der anderen Seite die Behandlung, die man erfährt weil man als Jugendlich wahrgenommen wird: Wir werden oft nicht ernst genommen, Erfahrungen werden uns abgesprochen. Jugendliche werden als ‘unreif’ dargestellt, eine Kategorie die wir sowieso ablehnen. Es kann natürlich aber auch eine bessere Behandlung mit sich ziehen, so gibt es bei Jugendlichen oft eine höhere Fehlertoleranz und Erwachsene sind oft mehr um unseren Schutz bemüht, als um den anderer Erwachsener. Diese ‘angenehmere’ Behandlung ist jedoch auch ein Resultat daraus, als unselbstständig dargestellt zu werden.

Diese Lebensrealität, die Jugendliche mal mehr und mal weniger teilen ist es, woraus sich die Notwendigkeit autonomer Jugendräume ergibt. Autonom bedeutet in diesem Falle, dass die Räume von Jugendlichen für Jugendliche verwaltet und gestaltet werden, ohne dabei finanziell, personell oder inhaltlich abhängig zu sein vom Staat, von offiziellen Trägervereinen oder erwachsenen Strukturen.

In diesen Räumen können sich Jugendliche gegenseitig kennenlernen, austauschen und weiterbilden. Räume, in denen die Jugend ausnahmsweise mal nicht bevormundet, unterschätzt und vergessen wird. Ein sicherer Ort für viele Menschen, die versuchen gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen. Menschen, die sich gegenseitig respektieren, kritisieren und reflektieren, um ein tolerantes Miteinander zu ermöglichen. Natürlich tragen wir auch die Mechanismen weiterhin mit, die wir in der Gesellschaft erlernen. Zumindestens in dem gemeinsamen Punkt Jugendlich zu sein, ergibt sich die Möglichkeit, sich auf Augenhöhe zu begegnen und ausnahmweise mal nicht so behandelt zu werden, wie die Gesellschaft Jugendliche eben behandelt. Trotzdem sind wir uns auch bewusst, dass wir auch aufmerksam auf Dynamiken innerhalb von Jugendgruppen sein müssen. Durch eine recht offene Auffassung, wie lange man Jugendlich ist können auch Altershierarchien zwischen Jugendlichen bestehen die unterschiedlich alt sind. Darum braucht es eine Transparenz über diese Machtgefälle und den Willen, diesen entgegen zu wirken. Da sie sich häufig in Wissenhierarchien wiederspiegeln, ist es wichtig diese abzubauen. Damit wird auch verhindert, dass sich innerhalb von Kollektiven kleine Gruppen von älteren Personen bilden, die mehr Verantwortung tragen und die im Endeffekt eine ungewollte Autorität darstellen.

Wir als Keimzellenkollektiv versuchen daher eine Balance zu finden, auf der einen Seite ein offenes Kollektiv zu sein, dass eine Anlaufstelle für neue Menschen ist und auf der anderen Seite aber auch in erster Linie ein Jugendraum zu sein, der Jugendlichen die Möglichkeit geben soll sich möglichst frei von Altershierarchien zu organisieren.

Redebeitrag zur #mietenwahnsinn -demo am 01.04.

Oft wenn ich andere Jugendliche treffe und ihnen erzähle, dass ich Berliner*in bin kommt sowas wie:  „Du kommst aus Berlin? Das muss richtig cool sein!… “, -„Ja ist es, …irgendwie.. „

Stellt euch vor…
Ihr lauft durch eure Straße, trefft ein bekanntes Gesicht nach dem anderen und könnt gar nicht mehr aufhören zu schnacken. Die Besitzer*innen vom Laden nebenan, alte Schulkamerad*innen oder einfach Menschen, die ihr seit klein auf vom Gesicht her kennt, aber mit denen ihr nie ein Wort gewechselt habt. Einfach unbekannte Bekannte. Es liegen vertraute Gerüche und vertraute Geräusche in der Luft. Man merkt der Ort gehört noch den Anwohnenden…

Klingt nach keiner großen Nummer, aber ist der berliner Tagtraum, der langsam immer blasser wird oder zu mancher schon komplett verpufft ist. Hier wird der Straßenzug geprägt von einem Yuppicafé nach dem anderen, wo einem beim Preisschild die Spucke wegbleibt. Die bekannten Gesichter werden immer spärlicher und weichen Touristengruppen, die alle halbe Meter anhalten und die immer gleichen Häuserfassaden unter großem staunen abknipsen und auf ihren Geräten verewigen. Die nachbarschaftlichen Gespräche weichen Wegbeschreibungen und stillen Spaziergängen. Schon vor der eigenen Haustür, quatschen einen Yuppies nach möglichen freien Eigentumswohnungen an: „der Preis wäre natürlich kein Problem, denn Geld haben sie..“ Sie kommen her, nisten sich ein und zerstören das ganze urbane Leben mit Eigentumsansprüchen, die in der Stadt keinen Raum haben. Wie Ruhestörung, darauf folgende Kneipenverbote, Auflösung nachbarschaftlicher und freundschaftlicher Zusammenkünfte, sowie das Absperren gemeinschaftlicher Orte zur Eigennutzung.  Dies ist nicht mehr unser Kiez, und wenn dann nur noch in versteckten und den letzten erhaltenen Plätzen.

Die Gentrifizierung ist schon lange kein schleichender Prozess mehr, sondern mittlerweile so schnell, dass man nur noch in Schockstarre verfallen kann. Bekanntes und finanziell leistbares wird rausgeschmissen, ausgetauscht und aufgewertet. Für uns Jugendliche steht Gentrifizierung für einen konstanten Verlust der noch zugänglichen und „eigenen“ Räume. Für junge Menschen gibt es sowieso wenige Räume in der Stadt. Brachen, Spätis, Parks und Straßen .. der Rest wird teuer oder lässt dir kein Einlass, weil du noch minderjährig bist. Durch die konstante Bebauung jeglicher Freifläche in Berlin  sind Brachen nur noch ein spärliches Gut geworden und Neubauten, deren Mieten für uns unerreichbar sind, machen sich auf den alten Plätzen breit. Parks haben wir in Berlin ein Glück viele, jedoch wird der Aufenthalt entweder durch Bullen, die ab 22:00 Uhr ihre Runden drehen und jede jugendlichen Gruppe angreifen und auflösen, oder durch natürliche Wetterumstände unterbrochen oder aufgelöst. Es kann nicht sein, dass wir uns im Winter den Arsch abfrieren müssen, um soziale Interaktionen außerhalb der eigenen vier Wände haben zu können. Vor allem durch die Coronapandemie und die damit verbunden Auflagen ist die prekäre Situation für uns Jugendliche noch sichtbarer und spürbarer geworden.

Auch beim Thema Wohnungssuche und Auszug spürt man die Barrikaden. Wir finden keine Wohnungen oder Zimmer mehr in unseren eigenen Kiezen. Alle Freunde sind entweder aus Berlin raus oder an den Rand gezogen. Die eigene Miete für ein Zimmer allein ist im Durchschnitt schon so gestiegen, dass spärlich bezahlte Knochenjobs quasi die einzige Möglichkeit für junge Menschen sind, um diese Kosten überhaupt tragen zu können. Viel bleibt am Ende des Monats nicht übrig. Ausziehen und diesen Schritt der Unabhängigkeit zu machen entwickelt sich zu einem langatmigen Prozess mit wenig Perspektive. Gerade durch diese Notwendigkeit von bezahlbarem Wohnraum ist der Mangel und Rückgang von wbs-Wohnungen in Berlin eine Entwicklung, die wir uns nicht erlauben können. Über die Hälfte aller Berliner*innen haben Anspruch auf sogenannte Sozialwohnungen und das vorhandene Angebot von nicht mal 90 000 Wohnungen ist lächerlich klein.
Für uns ist klar: Jugendliche brauchen eigene Räume. Räume, die wir selbst gestalten und verwalten können. Wir als Keimzellen-Kollektiv versuchen tagtäglich mit unserer Arbeit auf diese Notwendigkeit aufmerksam zu machen und einen Raum für Jugendliche zu bieten, indem wir alternative und unkommerzielle Bildungs-, Kultur- und Aufenthaltsangebote schaffen.

Es ist wichtig, dass wir uns als Jugend in diesem Kampf nicht individualisieren und desillusionieren lassen. Es ist unsere Stadt, also bleiben wir hier! Wir brauchen Kiez- und Nachbarschaftsgruppen, die ihren Kiez kennen und gegen die anhaltende Gentrifizierung verteidigen. Vernetzt und organisiert euch, bildet eigene Keimzellen.  
Keimzelle keimt, die Jugend bleibt vereint!

Pressemitteilung der Keimzelle

Jugendkultur verschwindet mit den Freiräumen!
Keimzelle vor der Räumung schützen! Für den Erhalt aller Berliner Jugendräume!
 
Die Keimzelle, ein selbstverwalteter Jugendraum in der Rigaer 94 in Friedrichshain, wird seit fünf Jahren von Jugendlichen selbst organisiert. Nun will sich die angebliche Eigentumsfirma ‘Lafone Investments’, eine britische Briefkastenfirma, unter dem Vorwand des Brandschutzes Zugang zum Haus verschaffen – in Begleitung der Polizei. Das, obwohl eine unabhängige Gutachterin des Bezirks bereits festgestellt hat, dass lediglich kleine Brandschutzmängel bestehen, die eigenständig behoben werden können. Ein*e von der Eigentumsfirma bezahlte Brandschutzgutachter*in hingegen, würde kein neutrales Gutachten erstellen, sondern versuchen, dem Interesse von Lafone Investements nachzukommen, eine Nutzungsuntersagung für möglichst viele Räumlichkeiten auszusprechen.
Einer der Hauptakteure hierbei ist Berlins Innensenator Andreas Geisel. Dieser versucht auf Biegen und Brechen die Begehung von der Eigentumsfirma zu ermöglichen. Dass es ihm dabei weder um Brandschutz, noch um das angebliche Recht der Eigentumsfirma geht, das Haus betreten zu dürfen, ist spätestens seit dem Leak einer E-Mail von ihm klar. In dieser schreibt er: „Die Bewohner wollen nicht, dass ihre Verteidigungsvorkehrungen in den Wohnungen und ihr Waffenlager […] auf dem Dachboden bekannt werden“.  Dies ist nicht nur eine haltlose und propagandistische Unterstellung, sondern stellt auch eine Kriminalisierung alternativer Lebensweisen dar. Eine Begehung aus dieser Motivation würde mit aller Wahrscheinlichkeit auch eine rechtswidrige Hausdurchsuchung bedeuten.
 
Die Keimzelle ist ein Ort, wo Jugendliche sich gegenseitig kennenlernen, austauschen und weiterbilden können. Ein Raum, in dem die Jugend ausnahmsweise mal nicht bevormundet, unterschätzt und vergessen wird. Ein sicherer Ort für viele Menschen, die versuchen gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen. Hier werden Menschen respektiert, gegenseitig kritisiert und reflektiert, um ein tolerantes Miteinander zu ermöglichen. Zudem steckt in diesem Raum Arbeit, viel Liebe und Herz. In den vergangenen Jahren sind in diesem Raum Ideen entwickelt, Projekte umgesetzt und Freundschaften entstanden und gefestigt worden. In der Keimzelle werden Themen wie Antirassismus, Antifaschismus, Queerfeminismus, Gentrifizierung, Klimagerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit behandelt, teilweise durch gemeinsame Arbeit in Bündnissen, in Form von inhaltlicher Auseinandersetzung, Podcasts und Videos oder Werkstätten und Workshops. Zudem werden Demos und Kundgebungen organisiert, Transpis gemalt und Solipartys und Filmabende veranstaltet. Selbst während der Pandemie, wo auch die Keimzelle nur bedingt öffnen konnte, ist das Keimzellen Kollektiv aktiv an der Kiezgestaltung beteiligt geblieben. Durch die Organisation von Kiezradios und anderen Veranstaltungen draußen, gaben wir unser Bestes, Corona-konforme, politische und soziale Räume für alle auch außerhalb von Arbeit und Schule zu organisieren. Diese Art von Freiraum ist für Jugendliche unabdingbar. Dort können sie ihre Persönlichkeit entwickeln, sich frei entfalten. Sie erlernen Selbstständigkeit und politische Teilhabe, die ohne solche Räume kaum möglich ist.
 
Die Bundesregierung ging mit dem nationalen Aktionsplan die Verpflichtung ein, Kindergerechtigkeit als programmatisches Handlungsziel dauerhaft zu verankern. Zudem äußerte sie, dass der Nationale Aktionsplan das Ziel haben soll, sich auf die konkrete Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen zu beziehen: auf ihren Stadtteil, ihr Quartier und auf ihr Wohnumfeld.
Im Zuge dessen, sollten die konkreten Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen gehört werden. Denn die Verdrängung von Freiräumen führt dazu, dass Jugendliche sich an unsicheren oder nicht bedürfnisorientierten Orten bewegen. Trotzdem tut die Regierung nichts, um diese wertvolle Kultur zu erhalten oder zu schützen, sondern schafft den Rahmen für Verdrängung und Räumung von Jugendclubs.
Die Regierung muss im Interesse der Jugendkultur handeln, sonst verschwindet diese mit der Gentrifizierung in den nächsten Jahren noch weiter!
 
Daher fordert die Keimzelle, dass die Jugend aktiv in die Planung ihres Stadtteils einbezogen wird und ungenutzte Flächen kreativ und innovativ genutzt werden dürfen – so auch bereits etablierte Räume, wie die Keimzelle und die Potse. Dafür müssen diese vor einer Räumung geschützt werden. Somit könnten solidarische Strukturen entstehen und gestärkt werden. 
Eine Teilräumung des Hauses, und auch unseres Jugendclubs sind nicht auszuschließen. Das muss so weit es geht verhindert werden. Denn gerade die Jugend in einer Metropole wie Berlin braucht Räume, die sie selbst verwalten kann. Wo sie sich jenseits von Schule, Eltern und anderen Autoritäten austauschen kann, Ideen entwickeln kann, wo sie sich organisieren kann. Wir rufen dazu auf, dieses Thema in die Öffentlichkeit zu bringen. Um das zu tun, haben wir uns mit anderen Jugendlichen Berlins zum Bündnis “Jugend braucht Raum” zusammengeschlossen, was zu #unserFreiraum und den anderen Aktionen arbeitet.
 
Die Jugend ist die Zukunft – also sollte sie gehört werden und die gesellschaftliche Zukunft inner- und außerhalb ihrer Räume mitgestalten! Die Keimzelle muss bleiben – für die Jugend, für die Stadt, für alle.
 

Die Keimzelle ist Räumungsbedroht!

Die Keimzelle existiert seit 2016 und ist ein selbstverwalteter Jugendclub in der R94 mit offenem Konzept. Aa sind wir ein Teil des Hauses, obwohl Veranstaltungen und Programm selbstständig geplant und organisiert werden. Veranstaltungen wie Plena, Schülivernetzung, Diskussionen, Filmabende, Kreativkram, Workshops, Skillsharing und Kickerrunden finden in der Keimzelle statt. Wir sind über die Jahre als Kollektiv zusammen gewachsen und haben viel zusammen rumgehangen, Küfa gefuttert und Bierchen getrunken. Unser Jugendclub in der 94 ist ein Ort an dem wir uns frei von öffentlichen Zwängen bewegen können und an dem wir uns sicher fühlen. Die Keimzelle ist einer der wenigen Freiräume und Safe-spaces in dieser Stadt, die Jugendlichen zur Selbstorganisation haben. Deshalb machen uns die Ereignisse nicht nur wegen ihrer fehlenden Legitimation wütend. Der durch Bullen geschützte Angriff des angeblichen Eigentümers auf die 94 und unseren Jugendclub, ist ein Beweis für die kapitalistische Eigentums-Fanatik. Die ständigen Einschränkungen und Repression sind nichts neues, aber die jetzige Situation übertrifft alles, was wir hier bisher erlebt haben! Wir sind krass abgefuckt und unglaublich wütend! Die R94 hat eine Bedeutung für ganz Berlin und steht im Kontext des politischen Kampfes gegen die Stadt der Reichen, für bezahlbaren Wohntraum und ein selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben für alle. Wollt ihr die Keimzelle und das Haus unterstützen: hier sein, Präsenz zeigen, Ungehorsam leisten (überall- Berlin ist groß), Essen und Material vorbei bringen, auf andere Arten supporten und die R94/Keimzelle jetzt zur Priorität machen. Genau wie alle anderen Projekte, die in diesem „Sommer der Räumungen“ bedroht sind müssen und werden wir dieses Haus verteidigen! Ein Angriff auf die 94 ist ein Angriff auf uns und das werden wir nicht auf uns sitzen lassen! Wir bleiben alle – Wir akzeptieren kein Haus weniger!

Reißt ihr unsere Häuser nieder, sehen wir uns in euren wieder!

 

aktuelle Kampagne:

Wir wollen, die von der Potse gestartete Kampagne #unserFreiraum wieder aufleben lassen. Postet unter dem Hashtag #unserFreiraum Bilder, Videos, Texte oder was euch sonst noch einfällt, um zu zeigen, wie wichitg autonome Jugendräume sind oder tragt eure  Gedanken direkt ins Straßenbild und macht so auf die Thematik aufmerksam.

Wir freuen uns über jegliche Form! Seid kreativ!